Einige Gedanken zur Ukrainischen Revolution

aus: linksunten.indymedia.org

Englische Version: 325.nostate.org

Hier ist ein Brief von einem anarchistischen Gefährten aus Kiew. Der Brief ist als eine Antwort, auf den kürzlich von Crimethinc veröffentlichten Artikel über die Ukrainische Revolution, und auf alle die so eifrig behaupten, dass die Ukrainische Revolution nur eine rechtsextreme Angelegenheit ist, gedacht.

Gefährten!

Ich schreibe an euch aus der Ukraine. Ich habe an einigen Krawallen am Maidan und an verschiedenen anarchistischen Initiativen während dieser Zeit teilgenommen und will verschiedene Kommentare machen, die ich, für ein besseres Verständnis der Ereignisse, wichtig finde. Generell stimme ich mit eurer Hypothese überein, aber ich will verschiedene Details betonen, die das Bild nicht so finster zeichnen.Um anzufangen, Nationalisten und Faschisten haben die Vorfront der Konfrontationen, nur im Bild der Medien über den Maidan, übernommen. Sie haben keine wirkliche Kontrolle über die Aktivitäten der Protestierenden, sie kontrollierten jedoch das Bild vom Maidan und faszinierten die Mainstream-Medien.

Faschisten vom ‚Rechten Sektor‘ und anderer Organisationen hatten nur über ihre eigenen Mitglieder Kontrolle. Und es ist es wert zu betonen, dass ihre organisatorischen Strukturen nicht sehr hierarchisch gewesen sind. Manche ihrer Mitglieder hatten ein sehr vages Verständnis der rechtsextremen Werte und unterstützen sie nur, weil sie die „radikalsten“ Kräfte waren. Dmytro Jarosh, der Anführer des ‚Rechten Sektor‘, war mehr eine Medienperson, der Sprecher des ‚Rechten Sektor‘, als ein echter Führer. Jetzt ist der ‚Rechte Sektor‘ beinahe aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Als die neuen Autoritäten Oleksanr Muzychko, einen Kommandeur des ‚Rechten Sektor‘ in der westlichen Region Kiews getötet hatten und einige andere Provokationen stattgefunden hatten, lösten sie sich in eine Fiktion „monströser Faschisten“ der russischen Propaganda auf.

Die echte Gefahr für Anarchisten stellte sich durch die Neonazigruppe ‚C14‘ dar – junge Militante der Svoboda Partei. Sie haben nahezu keine politische Hegemonie oder Unterstützung anderer Protestierender (die Svoboda Partei hat ihre Unterstützung enorm eingebüßt als Konsequenz ihrer opportunistischen Politik während des Aufstands). Sie kennen die Kiewer Antifaschisten und Anarchisten vom Gesicht her, weil wir sie schon einige Male vor dem Maidan konfrontiert hatten. Diese Gruppe war nicht so groß (100-200 Leute), aber gut organisiert und besser ausgerüstet. Wir konnten keine anarchistische Hundertschaft bilden, aufgrund ihres Drucks. Und während der Verteidigung des besetzten Bildungsministeriums waren sie die größte Gefahr für uns.

Ich habe mit zahllosen anderen militanten Protestierenden gesprochen und gewöhnlich haben sie Anarchismus mit großem Interesse diskutiert. Die meisten von ihnen haben nicht an irgendwelche Parteien geglaubt, und kämpften, wie sie zu sagen pflegten „gegen die Polizei, die Autoritäten und die Korruption“. Persönlich fasse ich das als fantastische Selbstorganisierung und Solidarität unter den Protestierenden als Manifestierung eines praktischen „Folk Anarchismus“ auf.

Auch wenn das schlecht verstanden wurde.

In Anbetracht der Konsequenzen des Maidans und der Forderungen der Protestierenden sind die politischen Auswirkungen der Erhebung nicht nationalistisch, sondern liberal. Der dominante Teil der Protestierenden spricht über „einen besseren Staat (Wohlfahrtsstaat), mit Bürokratie ohne Korruption, Polizei die für unsere Sicherheit sorgt und Armee die uns vor Invasoren schützt, etc.“ Der neue Präsident der Ukraine hat in seiner letzten Rede versprochen, dass die gesamte Autorität dezentralisiert wird und mehr Rechte und Ressourcen an lokale Gemeinden abgeben werden. Und ich befürchte, dass schlaue „soft policies“ die Protestatmosphäre für ein weiteres Jahrzehnt unterdrücken werden. Zur selben Zeit scheint es so, als ob die politischen Eliten das nicht verstanden hätten. Sie bleiben korrupt und stimmen für brutale neoliberale Reformen. Die Mehrheit der Leute hat sich entschieden, den neuen Autoritäten Kredit zu gewähren. Der Grad des Radikalismus ist zurückgegangen. Die Leute denken, dass sie Kompromisse erreichen können und verwenden üblicherweise Taktiken wie Streikposten und andere legale Formen des Protests. Die Effizienz dieser Taktiken ist nicht so groß, deshalb hoffe ich, dass es die Leute provoziert radikaler zu werden.

Weiters denke ich, dass die nationalistische Rhetorik am Maidan oberflächlich war, die ukrainischen Flaggen und der Slogan „Slava Ukraini“ (Ehre der Ukraine) haben in einem gewissen Sinn ihren staatlichen Symbolismus verloren. Während dieser Zeit waren sie Symbole der Krawalle. Obwohl nach dem Beginn des Krieges eine starke Reaktion in der Gesellschaft begann. Es gab einen Schock, die Leute wussten nicht, was sie tun sollten mit der russischen Armee auf der Krim, also gewährten sie der Armee und den neuen Autoritäten (Mitte-rechts-und neoliberale Parteien im Parlament) Kredit. Heute zeigt sich der gewöhnliche Patriotismus und Nationalismus als Russophobie und Unterstützung für die ukrainische Armee im Krieg, aber nicht in der Unterstützung der Autoritäten und einem starken Staat. Es gab einen Moment, vor der Wahl des neuen Präsidenten, als die Leute glaubten, dass Poroschenko irgendwie Stabilität zurückbringen würde. So rechtfertigten sich die meisten dafür, dass sie für ihn stimmten. Aber mir scheint es, dass die Behörden ihre Unterstützung Tag für Tag mehr einbüßen.

Zweitens gab es tatsächlich keine „aus Hundert Personen bestehenden Kampfeinheiten mit strikter Hierarchie im Kommando“. Die Selbstverteidigungskräfte bestanden aus ungefähr 40 Hundertschaften am Maidan. Und nur ein Dutzend war nationalistisch oder faschistisch. Andere wurden zusammengesetzt auf regionalen (zum Beispiel, die Lwiw Hundert) oder gemeinschaftlichen (Afghanistan Veteranen Hundert) Grundlagen. Es gab auch nicht militante Hundertschaften die nur das Label „Hundert“ verwendeten. Zum Beispiel die „Kunst Hundert“ die ihre Entscheidungen durch Konsens trafen (sie waren kaum durch Anarchisten beeinflusst). Was ich als noch wichtiger auffasse, ist, dass während den Konfrontationen auf der Grushevskogostraße und der Instytutskastraße die wirkliche Kraft die gegen die Polizei kämpfte aus tausenden autonomen Gruppen bestand. Die jeweils aus zwei bis zehn Freunden bestanden und ohne irgendeine organisatorische Mitgliedschaft gemeinsam gegen die Polizei kämpften. Ich habe persönlich in Konfrontationen nur in Gruppe mit meinen Freunden teilgenommen, die keine Anarchisten sind! (Ich war während dieser Zeit in keiner Affinitätsgruppe und all meine anarchistischen Gefährten, waren zu dieser Zeit abwesend.) Weiters, die meisten Hundertschaften hatten keine 100 Personen. Vor den Konfrontationen auf der Instytutskastraße bestanden die meisten Hundertschaften aus 20 bis 40 Leuten. Die Leute verließen einfach ihre Hundertschaften wenn sie keine Lust mehr hatten. Es gab einen lustigen Moment im besetzten Bildungsministerium (die Verteidigung dieses Orts wurde vor allem von Anarchisten gehalten). Zwei Kerle schlossen sich uns an und sagten „wir haben unsere Hundertschaft verlassen, sie tun nichts und uns scheint, dass die Bewachung dieses Orts spannender ist“. Die Zusammensetzung der militanten Protestierenden war sehr dynamisch und nicht vereinheitlicht.

Drittens, nach den Konfrontationen auf der Instytutskastraße verbreitete sich der Maidan schließlich in alle Nachbarschaften von Kiew und dann in die meisten Städten und Dörfern der Ukraine. Die Menschen organisierten sich selbst in lokalen Selbstverteidigungskräften um die Polizei und die ‚titushkas‘ (proregierungs Militante) zu bekämpfen. Wir (Anarchisten) verstanden die Notwendigkeit der Dezentralisierung und Verbreitung der Proteste in alle Teile der Stadt und des Landes, aber aufgrund fehlender Erfahrung mit Direkten Aktionen haben wir keinen Impuls dieser Taktik gebracht. Die Leute kamen dazu intuitiv nachdem die Regierung die U-bahn blockiert hatte was das Transportsystem von Kiew paralysierte. Die nie da gewesene Gewalt auf der Instytutskastraße brachte Schuljungen in der Zentralukraine dazu mit Holz-und Metallstöcken Busse mit ‚titushkas‘ zu stoppen. Diese lokalen Selbstverteidigungskräfte sind mehr oder weniger bis heute aktiv. Zum Beispiel kämpfen sie gegen Bauunternehmer. Ich denke, dass die Taktik, Desaster in ruhige Nachbarschaften zu bringen und Transport und andere Infrastruktur in den Städten zu blockieren fruchtbar in weiteren Aufstanden sein wird.

Um zusammenzufassen, ich denke, dass es möglich ist, dass rechtsextreme Organisationen den Aufstand, der für den Anarchismus fruchtbar war, versuchen werden für sich zu vereinnahmen, sie müssen sich entwickeln und dem neuen Boden anpassen. Sie müssen ernsthafte Anstrengung unternehmen um dort zu verbleiben. Sie können nicht einfach den Protest von unten völlig absorbieren.

 

Deshalb denke ich, dass die Situation für Anarchisten nicht so schlecht ist. Ich empfehle anarchistischen Gruppen im Herzen von Aufständen teilzunehmen, und nicht nur radikale Formen der Direkten Aktion vorzuschlagen, sonder auch wirklich radikale politische Perspektiven zu zeichnen. Der beste Platz für die Agitation unter Leuten, sind die Barrikaden. Wir müssen neue Wege öffnen, von dem, was möglich ist. Zuallererst war die Verwendung von Molotovcocktails in der unabhängigen Ukraine sehr zaghaft. Als Beispiel, heute sind Bullen und Politiker in der Ukraine nicht mehr unangreifbar. Was als nächstes? Wir müssen ein Verbot von privatem Eigentum durchsetzten. Wir dürfen nicht, auf die Erschaffung „einer großen Arbeiterbewegung“ warten, wie das meine syndikalistischen Gefährten tun; nach der Aufmerksamkeit der Mainstream-Medien trachten oder der Zustimmung von liberalen Freunden (was viele von uns getan haben); wir müssen den Staat und die Reaktionäre jetzt bekämpfen.

***

Die Aufmerksamkeit der ukrainischen Gesellschaft hat sich nun zum Krieg im Osten gewandt. Das bemerkenswerteste Phänomen dort sind Freiwilligenbataillons. Das bekannteste heißt ‚Donbas‘. Der Kommandeur bezeichnet es selbst als ‚Netzwerk der Patrioten‘. In verschiedenen Videos demonstriert er mehr oder weniger kritische, aber liberale Positionen. Es gibt auch ein Bataillon ‚Azov‘, welches aus Neoanzis besteht (auch wenn die Mainstream-Medien ihre Ideologie verschweigen.) Andere Bataillons haben keinen politischen Einfluss. Ich kann euch nicht sehr viel über den Stand der Dinge im Osten erzählen, weil ich nicht dort war. Ich nehme dazu Informationen von offenen und gewöhnlichen Mainstream-Medien. Im Falle dass ihr Zweifel habt über die Prorussische Seite des Konflikts, ihre Anführer, sind zweifelsfrei, Rechtsextreme. Üblicherweise ist ihre Rhetorik voller russischem Imperialismus und Chauvinismus, Rassismus, Homophobie und religiösem Fundamentalismus. Ihr Antifaschismus ist ein vorgetäuschter. Er ist lediglich ein Produkt sowjetischer Mythologie über den zweiten Weltkrieg. Sicherlich mag es Leute geben, die meinen, sie würden für ihre Freiheit kämpfen, gegen die wirklichen Faschisten und nicht für Putin, aber diese sind nicht im politischen Diskurs präsent. Einige Anarchisten haben sich den Freiwilligenbataillons angeschlossen. Ich denke nicht, dass das die beste Entscheidung war, aber ich kann sie verstehen. Das Fehlen von Aktivitäten und sichtbaren Perspektiven in Kiew verbunden mit dem echten Wunsch nach Widerstand, drängten sie dazu in den Krieg zu gehen. Ich denke nicht, dass sie zu Nationalisten oder Ähnlichem werden, ich bin mir sicher, dass sie es fertig bringen werden unter den Soldaten zu agitieren und ihnen erklären, was Anarchismus ist. Es mag gut sein, dass ihre neuen Erfahrungen bald nützlich werden für Gefährten die zuhause geblieben sind.

 

Es ist schwer ein Ende dieser Geschichte vorher zu sehen. Neue Autoritäten verlieren ihre Legitimität. Außerdem gibt es einige Streitpunkte in der Armee. Schlechte Lebensbedingungen in den Kasernen und dumme, todbringende Administration schaffen in der Armee eine Atmosphäre für Desertion. Der Preisanstieg, Kürzungen und Rezession können zu einer weiteren massiven Krise in der Ukraine führen. Ich bin überzeugt, dass für Anarchisten die einzig akzeptable Perspektive die Zweite Welle der Revolution ist. Es gibt keinen anderen Weg als Revolution, überall in unserer Region. Ukrainische Anarchisten müssen russische und weißrussische Gefährten inspirieren, auch aufzubegehren. Nur gemeinsam werden wir dazu fähig sein, den Kapitalismus in unserer Region, und in der Welt umzustürzen.

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